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Kite-7's avatar
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„Nimmst du mein Angebot an?“ Ihre langen Fingernägel kratzten über die Holzplatte, auf der sie wie auf einem unsichtbaren Instrument zu spielen schien. Der Triumph stand bereits in ihren Augen geschrieben, ehe er zur Antwort angesetzt hatte. Vor dem offen stehenden Fenster tanzte der Schnee.

Vor sieben Tagen war sie plötzlich da gewesen. Es war ein mieser Tag, sowohl das Wetter als auch das Schicksal hatten mit ihm gespielt und sein Leben in ein verwaschenes Grau getaucht. Mitten in diese Farblosigkeit war sie geplatzt und hatte ihn vor eine Entscheidung gestellt. Doch obwohl er beinahe in Versuchung geraten wäre, hatte er sich doch Bedenkzeit gewünscht. War es tatsächlich ein gutes Zeichen, dass sie ihm einige Tage Zeit gelassen hatte?
Wie viel Zeit bliebe ihm noch, wenn er ihr Angebot annahm? Spielte sie nur mit ihm, oder sagte sie die Wahrheit? Was würde er nicht dafür geben, zu wissen, was sie wusste. Zu wissen, wann der Tod an seine Tür klopfen würde. Aber nein. Er klopfte nicht. Er brach mit dunklen Schwingen ohne Vorwarnung durch die Tür und daran würde auch sie nichts ändern können. Alles, was sie ihm anbieten konnte, war die Gewissheit, glücklich zu sein bis die Zeit gekommen war.

Aber dafür verlangte sie viel. Vielleicht zu viel.

Die Diagnose war hart zu verdauen. Mit hängenden Schultern trottete er den Weg entlang, die Treppen hinab und in den Stadtpark. Backsteinmauern umschlossen ihn und verbargen seinen Anblick vor dem bunten Treiben draußen. Erschöpft ließ er sich auf einer der verdreckten Parkbänke fallen, schob mit dem Ellenbogen einen leeren Pappbecher bis zur Kante und sah zu, wie er darüber rutschte und den Mülleimer knapp verfehlte. Das erinnerte ihn an die Berge von Müll, durch die er sich am Morgen noch gewühlt hatte.
Es war ihm klar gewesen, dass etwas mit ihr nicht stimmte, aber er hatte noch gehofft, sie hätte nur eine depressive Phase oder hätte sich einen schwächenden Infekt eingehandelt. Nun wusste er, was Sache war, und es machte ihm Angst. Sein Vater war bereits an dieser Krankheit zugrunde gegangen. Langsam und schleichend hatte sie ihn verändert und ihm alles fortgenommen. Jahrelang hatte seine Mutter sich um ihn gekümmert, ihn gepflegt und hatte zu ihm gehalten, mit ihm gelitten. Nun hatte die Krankheit auch nach ihr gegriffen.
Zuerst war sie nur etwas zerstreuter gewesen, aber er hatte gedacht, es läge an der Aufregung, schließlich war er nicht mehr allzu oft zuhause zu Besuch gewesen. Vermutlich war es ihm deshalb auch erst vor kurzem aufgefallen, dass etwas nicht stimmte. Wie sie hatte er sich geweigert, es zu sehen. Er wollte sie nicht auch noch langsam verschwinden sehen. Sie würde verblassen und alles, was blieb, wäre ein bettlägeriger, abgemagerter Schatten. Die Erinnerungen würden verschwinden.

Die Verzweiflung, Angst und Verwirrtheit würden ihnen beiden die letzten Nerven rauben.

Und obwohl ihnen noch etwas Zeit blieb, bis sie sein Gesicht vergessen würde, hatte er Angst. Nicht vor ihrem Tod. Er fürchtete darum, dass es ihm ebenso ergehen würde.
Was, wenn er auch eines Tages nachts fast unbekleidet auf der Straße stünde, ohne den Hauch einer Ahnung warum? Alle Erinnerungen, alle Freunde und das Leben verlieren, überleben, an Schläuchen und in Windeln ohne Hoffnung auf eine Rettung, unfähig sich verständlich zu machen.

Was für ein Gefühl mochte das sein, dazuliegen und vor sich hin zu vegetieren?

Was würde tatsächlich noch an Gedanken übrig sein?

Und wie viel Leid konnte ein Mensch aushalten, ehe er verrückt wurde?

In diese düsteren Gedanken war sie geplatzt. Mit ihren violetten Haaren, den blau umrandeten Augen und den langen, roten Fingernägeln. Nur ihr Mantel war rabenschwarz. Plötzlich saß sie neben ihm und bat ihn um Feuer. Er hatte lange nicht mehr geraucht, aber an diesem Tag hatte er sich tatsächlich eine neue Schachtel gekauft, obwohl er wusste, dass sie ihm nicht helfen würde.

„Warum hast du Angst?“, fragte sie und schlug die Beine übereinander, während sie die Glut ihrer Zigarette betrachtete. Überrascht sah er auf. Sie lachte leise.
„Man sieht es in deinen geweiteten Augen, deinem blassen Gesicht und an deinen zitternden Händen. Du solltest heute lieber nicht mit dem Feuer spielen!“ Sie nahm ihm seinen Stängel ab und ließ ihn mit spitzen Fingern im Mülleimer verschwinden. Irritiert steckte er sein Feuerzeug wieder ein, dann fasste er sich wieder.
„Ich war eben im Krankenhaus. Meine Mutter hat Demenz“, krächzte er. Es kam ihm nur schwer über die Lippen.

„Du hast Angst davor, nicht wahr? Hilflos zu sein und am Leben gehalten zu werden, weit ab vom Leben. Was würdest du dafür geben, wenn du die Gewissheit haben könntest, niemals dieses Schicksal zu tragen?“, fragte sie und ihre Stimme erinnerte ihn an das Schnurren einer Katze. Sie hatten mal eine gehabt, die immer geschnurrt, dann jedoch nach ihm gehauen hatte, wenn er sie streicheln wollte.

Es kam ihm nicht seltsam vor, als sie die Hand ausstreckte und ihm übers Haar strich. Fast schien es ihm sogar eine vertraute Berührung zu sein. Wärme kroch durch seinen Körper. Doch kaum hatte sie die Hand zurückgezogen, da schoss sie kalte Angst schon wieder in sein Herz. Er wollte nicht vergessen. Er wollte nicht verblassen. Er wollte nicht hören, dass er später anders denken würde. Dass man noch immer Glück verspüren konnte. Er hatte die Schatten gesehen. Er wollte nicht ins Dunkel gleiten.

„Alles“, antwortete er heiser. „Alles würde ich geben, wenn ich nur so etwas nicht erleiden müsste!“ Sie lächelte.
„Dann bist du tatsächlich der Richtige. Ich habe dich lange beobachtet. Deine Angst vor dem Älterwerden, dein Wahn jugendlich und gesund zu bleiben. Deine Entschlossenheit und deine Verzweiflung sind mir schon früh ins Auge gefallen. Wie du dich dagegen sträubst, was doch dein Schicksal ist. Du hast es dir nie ausgesucht. Konntest es nicht. Was würdest du denken, wenn ich dir sage, dass du heute die Gelegenheit hast, selbst Entscheidungen zu treffen?“

Sie legte ihren Arm auf die Rückenlehne der Bank, sodass ihre Hand nur wenige Zentimeter von seinem Nacken entfernt war. Nervös blickte er auf seine Schuhspitzen.

„Ich kann dir garantieren, dass du nicht daran erkrankst. Dass du an nichts dergleichen zugrunde gehen wirst, wenn du mein Angebot annimmst. Ich biete dir Glück und Gesundheit bis zum Ende deiner Tage. Was du mir dafür geben musst, sind einige dieser Tage. Aber was sind die Tage wert, an denen du nur noch ein Schatten sein wirst? Ich sehe die Krankheit bereits in deinem Körper. Noch schläft sie, aber der Drache wird erwachen. Und du wirst leiden. Du kannst deinen größten Ängsten entgehen!“

Er sah sie aufmerksam an. Warum zweifelte er nicht an ihren Worten? Es war doch verrückt, zu glauben, sie könnte ihm all das ersparen. Warum war er sich so sicher, dass sie die Wahrheit sprach? „Wie viele?“ Er räusperte sich. „Wie viele meiner Tage?“
Sie verzog die Lippen zu einem schelmischen Grinsen. „Ein Drittel deiner Lebenszeit vom heutigen Tag an. Dafür wirst du keiner Krankheit zum Opfer fallen und auch das Altern wird seinen Schrecken verlieren!“

Geschockt sprang er auf und blickte sie entsetzt an. Wie viel war ein Drittel seiner Lebenszeit? Er fragte sie, aber sie konnte ihm keine Antwort geben. Es schien ihm ein hoher Preis zu sein. Trotzdem lehnte er nicht ab. Stattdessen bat er sie um Bedenkzeit.

Sie gab ihm eine Woche.

Die Zeit war um. Nächtelang hatte er dagelegen und ausgerechnet, wie viel Zeit ihm noch bliebe, wenn er so und so alt würde. Er hatte Statistiken gewälzt und darüber nachgedacht, wie viel Zeit ihm noch bliebe, bis die Krankheit ausbrach. Nun saß sie an seinem Schreibtisch und wartete auf seine Antwort. War es für ihn ein guter Deal? Was, wenn er nur vierzig Jahre alt werden würde? Dann würde sie ihm das letzte Drittel nehmen und er hätte nur noch ein Jahr zu leben. Andererseits hatte sie Andeutungen gemacht, dass ihn die Krankheit in ihre Klauen bekommen würde. Gut möglich, dass sein Leben dann erst mit dem hypothetischen Ausbruch der Krankheit sein Ende finden würde.

„Ja“, sagte er entschlossen. „Ich nehme dein Angebot an!“

Sie lächelte süffisant und klatschte in die Hände. „Sehr gute Entscheidung!“

Ein eisiger Schauer lief ihm über den Rücken. Ihre Stimme klang rau und kalt. Wo war die Vertrautheit hin, dieses wohlig warme Gefühl in ihrer Nähe? Sie erhob sich elegant aus dem Sessel und kam auf ihn zu. Ihre Fingernägel wechselten für einen Bruchteil einer Sekunde die Farbe von Rot zu Schwarz und graue Wellen liefen durch ihr buntes Haar und verschwanden wieder.

„Und ich wähle das erste Drittel deiner restlichen Jahre!“, bemerkte sie und lachte.

Seine Haut begann zu schmerzen, sich rötlich zu verfärben bis sich mit ein paar Tropfen Blut schwarze Federn hindurchbohrten und seinen Körper bedeckten. Schmerz flammte durch seinen Körper. Er ging in die Knie, aber seine Beine verzogen sich, krümmten sich.

Alles war Schmerz, und als ihr Lachen verklang, erhob sich der schwarzgefiederte Vogel vom Boden, flatterte zum Fenster und hinaus in das tanzende Weiß.
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Pereyga's avatar
Ich bin mir nicht sicher, zu verstehen, was genau da am Ende abgeht, aber es ist auf jeden Fall unheimlich oô
Die Ängste des Protagonisten - die auch durchaus verständlich sind, ich glaube dement werden möchte niemand - hast du gut rübergebracht.