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Schutzengel (7/7)

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Der Schrei und das anschließende Poltern ließen Nick in der Bewegung erstarren. Eiseskälte rieselte seinen Rücken hinab. Dann hatte er sich wieder gefangen und hastete zur Quelle des plötzlichen Lärms. Eine jämmerlich maunzende Katze kam ihm entgegen. Er fand Corinne in ihrem Schlafzimmer auf der Bettkante sitzend, wie sie mit schmerzverzerrtem Gesicht ihren Knöchel abtastete.
Phil räumte bereits die Trümmer des zerbrochenen Stuhls zur Seite.
„Was ist passiert? Geht es dir gut?“, fragte Nick besorgt.
Phil musterte ihn kurz und grinste. „Das ging aber schnell. Hätte ich dir nicht zugetraut!“
Corinne und Nick ignorierten seinen frechen Kommentar.
„Das wird blaue Flecken geben“, stellte Corinne fest, ließ ihren Fuß testweise kreisförmige Bewegungen vollziehen und trat vorsichtig auf. „Aber ich glaube nicht, dass was gebrochen ist. Ich bin nur beim Sturz umgeknickt.“
Corinne blickte Nick ins Gesicht und lächelte sanft. „Du bist kreideweiß! Es ist doch nur ein Knöchel!“ „Ich habe es nicht gespürt“, sagte Nick noch immer fassungslos. „Ich hätte es merken müssen!“
Ohne mehr als mit halbem Ohr dem seltsamen Gespräch zu lauschen, packte Phil eilig seine Tasche. „Vielleicht habe ich zu lange gewartet. Es tut mir leid, Corinne!“, entschuldigte Nick sich.
Sie schüttelte ungläubig den Kopf. „Das ist doch nicht deine Schuld! So etwas passiert eben. Ich war etwas ungeschickt, nichts weiter!“ Aber Nick schien ihr nicht mehr zuzuhören. Es fiel ihm sichtlich schwer die Worte auszusprechen, doch es führte kein Weg daran vorbei. „Ich muss jetzt gehen!“
Phil schloss den Reißverschluss seiner Tasche und sah von Nick zu Corinne und wieder zurück.
„Hey, du musst nicht wegen mir gehen. Ich bin schon so gut wie weg!“ Corinne wollte Nick am Arm zurückhalten, doch da war er schon aus dem Zimmer gehastet. Mit zusammengebissenen Zähnen folgte sie ihm halb laufend, halb humpelnd. „Warte!“, rief sie, doch sie hörte schon die Wohnungstür ins Schloss fallen. Seine Tasche lässig über die Schulter geworfen, stützte Phil Corinne auf ihrem gemeinsamen Weg durch die Wohnung und hinaus auf die Straße. Erst auf dem Gehweg holten sie Nick ein, und Phil ließ die Beiden alleine. Vereinzelte Schneeflocken fielen vom Himmel.

Ihr Schutzengel stand am Straßenrand und sah zu ihr zurück. Fast erwartete Corinne, er würde sich vor ihren Augen in Luft auflösen oder in einem hellen gleißenden Licht verschwinden.
Sie zitterte vor Kälte, aber sie wusste, sie konnte ihn nicht dazu überreden, mit ihr zurück ins Warme zu gehen.
Nick hatte eine Entscheidung zu treffen, und es schien als wären ihre Bemühungen umsonst gewesen. Natürlich hatte sie gewusst, der Moment würde kommen, indem er entschied, was er sein wollte. Nur irgendwie hatte sie den irrsinnigen und doch hoffnungslosen Wunsch gehegt, sie hätten mehr Zeit. Corinne und Nicks Blicke trafen sich.

Die Zeit stand still.

Sein Inneres fühlte sich an, als hätte ihn jemand an Armen und Beinen gepackt und so lange an ihm gezogen, bis er zerrissen war. Gerade auf Brusthöhe. Es wunderte ihn beinahe, dass sie es nicht sehen konnte.

„Soll ich gehen?“, fragte er, als könne sie ihm diese Frage beantworten. Corinne wandte den Blick ab. Sie wollte nicht, dass er in ihren Augen die Gedanken las, welche durch ihren Kopf schossen und an ihrem Gewissen zerrten. Sollte er gehen? Gerne hätte sie mit nein geantwortet.
Doch es klappte nicht. Sie konnte ihn nicht darum bitten, alles aufzugeben was er war. Es war nicht an ihr zu entscheiden, was für ein Schicksal auf ihren Schutzengel wartete. Sie durfte ihm kein Leben aufdrängen, das ihn womöglich in den Abgrund ziehen, zu einem Menschen machen würde. Da war so viel Licht in seinen Augen und so viel Wärme und Zuversicht in seiner Nähe. Würde nicht all das vergehen, wenn sie ihn bat, ein Mensch zu werden? Corinne seufzte leise. Dann sagte sie, was sie für richtig hielt.

„Es ist deine Entscheidung! Schließ die Augen und versuch dir einen Grund auszumalen um zu bleiben. Hör tief in dich hinein. Denk an die Zeit, die du als Mensch hattest. Fühl all das in dir, was du neu kennengelernt hast und was du schon seit Ewigkeiten empfindest. Lass all das in deine Gedanken. Alle deine Ängste, deine Sorgen, deine Faszination, dein Glaube und deine Liebe… Siehst du sie, fühlst du sie in deinem Herzen? Du musst dich daran festhalten“, wies sie ihn an. Ihre Stimme war fest und klar. „Und jetzt lass dich fallen. Was hält dich auf? Du musst alles loslassen. Sei frei. Was übrig bleibt, was sich nicht wegdenken lässt und sich an dich klammert, in deinem Herzen bleibt, das ist dein Grund zu bleiben. Wenn er nicht stark genug ist, dann kannst du gehen. Geh oder bleib. Aber triff eine Entscheidung. Für dich. Für dich allein!“ Sie schluckte schwer und wartete nervös auf seine Antwort.
„Es ist nicht mehr nur meine Wahl“, widersprach ihr Nick und kam näher.
Corinne hielt ihre Arme vor der Brust verschränkt und kämpfte gegen das Klappern ihrer Zähne an.
„Ich war zu lange hier, habe darauf vertraut, dass noch Zeit bleibt. Aber ich habe zu viel meiner Kraft verloren, als dass ich jetzt noch die Macht hätte deine Ebene ohne fremde Hilfe zu verlassen. Corinne! Bitte schau mich an!“
Sie zog fragend die Augenbrauen hoch.
„Es liegt jetzt nicht mehr an mir. Du musst die Entscheidung treffen. Nur du kannst mich gehen lassen, und dafür musst du mit ganzem Herzen bei der Sache sein. Du hast versucht mir das Leben aus deiner Sicht zu zeigen. Dafür bin ich dir dankbar, mehr als du ahnst. Zum ersten Mal war ich mehr als nur ein Beobachter. Ich weiß nichts, womit ich die Zeit mit dir vergleichen könnte und doch… Ein Leben als Mensch ist nicht Grund genug um zu bleiben“, sagte Nick ohne sie aus den Augen zu lassen. Er suchte nach einem Zeichen in ihren Bewegungen und ihren Blicken, doch sie bemühte sich darum, ihm nicht direkt in die Augen zu sehen.

Corinne nickte mechanisch. Wahrscheinlich sagte er die Wahrheit, und der einzige Grund für seine Anwesenheit war wirklich ihre Ignoranz gewesen. Vermutlich hatte die Zeit zusammen sie nun insoweit „repariert“, dass sie ihren Geist nicht mehr vor ihm verschließen würde.
Er war ein Schutzengel, und seine Aufgabe war erfüllt. Er konnte wieder zurück in die Unsichtbarkeit kehren.
Sie erinnerte sich an die Worte ihrer Mutter.

Lass ihn sein, was er ist.

Was war er also? Sie riskierte einen kurzen Blick in seine Augen. Darin sah sie so viel mehr als nur ihr blasses Spiegelbild. Er war so vieles. Das Leben wäre eine Bereicherung für ihn, aber es würde auch so viele Schwierigkeiten mit sich bringen. Wäre es überhaupt ein Leben, ohne eine Kindheit wie Corinne sie hatte? So viele Jahre und Erinnerungen, um die er betrogen wäre. Den Verlust seiner Kräfte nicht zu vergessen. Wie könnte er damit leben, nicht mehr in dem Maße den Menschen beiseite stehen zu können für die er lebte? Für die er existierte wie er war? Durfte sie egoistisch sein und ihm – zumindest im übertragenen Sinne – die Flügel kappen?

„Du musst deine Augen schließen und dich auf deine Entscheidung konzentrieren“, erklärte Nick, doch zugleich schien er noch ein paar letzte Worte von ihr zu erwarten. Sollte sie ihm „Auf Wiedersehen“ sagen, wo er doch der einzige war, der von ihnen beiden den anderen noch sehen würde, wäre er erst wieder ein Schutzengel?

Sie schloss die Augen und versuchte die Kälte zu vertreiben, die sich in ihrem Inneren einzunisten versuchte. Es lag also allein an ihr, ob sie ihn gehen lassen wollte.
Ein Leben als Mensch war nicht Grund genug für ihn zu bleiben?

Was wäre Grund genug?

Konnte es irgendetwas geben, das stärker war als die Verpflichtung eines Engels über seine Schutzbefohlenen zu wachen? Gab es etwas Größeres und Helleres als das Licht, welches er gewöhnt war? Corinne wusste es nicht.
„Du hast dich entschieden?“, fragte er vorsichtig.
Nick stand mittlerweile so nahe vor ihr, dass sie beinahe seine Wärme spüren konnte. Stattdessen fühlte sie eine Bewegung, kaum mehr als einen Windhauch. Er hatte ihre immer an der verkehrten Stelle hervorlugende Haarsträhne zurück hinter ihr Ohr geschoben.


„Dann ist es an der Zeit!“ Sie hörte seine Stimme nur gedämpft durch das Rauschen ihres Bluts in ihren Ohren und das verzweifelte Pochen ihres gegen den Brustkorb hämmernden Herzens. Es war an der Zeit. Corinne folgte ihren eigenen Worten und ließ all ihre wirren Gedanken und Gefühle durch ihren Kopf gleiten, fügte sie zusammen und suchte nach der richtigen Entscheidung und der Kraft sie zu treffen. Wärme breitete sich in ihrer Magengegend aus.


„Ich habe mich in dich verliebt“, wisperte sie. Dann traf sie ihre Entscheidung.


Die sanften Töne eines Pianos, begleitet von den klaren Klängen einer Gitarre und der rauen Stimme eines Mannes verbreiteten sich in der Stille der Küche, als Corinne das Radio anschaltete. Klagend stimmte auch die Oboe mit ein, sang von ihrer Trauer und dem Leid, das sie erfahren hatte. Die melancholischen Stimmen aller Instrumente verschwammen ineinander wie die Farben eines Bildes unter den Tränen seines Malers. Dann änderte sich die Melodie. Langsam verflochten sich sanftere und hoffnungsfrohere Töne mit der traurigen Stimmung. Leise Glöckchen läuteten den Wendepunkt ein.  
Fröhlich mitsummend wiegte sie sich im Takt und blickte aus dem Fenster in die stille Winternacht.
Weiße Flocken wurden vom Wind gegen das Fenster gedrückt und zerschmolzen zu kleinen Wasserperlen. Sie beugte sich vor, hauchte das Glas an und malte mit den Fingern eine schemenhafte Gestalt darauf. Ihre Katze lag auf der Fensterbank und beobachtete sie mit einer Mischung aus gekonnt gespieltem Desinteresse und der hoffnungsvollen Erwartung, ein paar Streicheleinheiten ergattern zu können. Plötzlich zuckten die Ohren. Die Katze horchte auf und erhob sich. Corinne kraulte sie im Nacken.

„Wie bist du hereingekommen?“, fragte sie.

„Du hast doch nicht etwa deinen neuen Notfallschlüssel in der Zündholzschachtel unter dem Sicherungskasten vergessen?“, entgegnete er mit einem warmen Lächeln.
Und das Ende der kleinen Geschichte.
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